Nach dem schönen Frühstück nehmen wir ein Taxi zum Otogar. Der Taxifahrer hebt unser Gepäck in den Kofferraum mit einem etwas gepressten “Massallah, massallah” zwischen den Lippen, was an dieser Stelle irgendwas zwischen Erstaunen, Ermutigung und Segenswunsch ausdrückt. Ja, es hat sich was angesammelt in den Monaten. Wir nehmen den Bus nach Bingöl. Der besonnene Busfahrer lenkt zwischen Sonnenschein und Wolkenbrüchen den großen Bus durch die nicht endenden Berge auf einer kleinen Straße, die über lange Strecken nur Baustelle ist (Straße wird ausgebaut). Besonders der letzte Teil der Reise ist landschaftlich wunderbar, wir fahren entlang eines tiefen Tals, in dem der Göynük fließt. Das schöne an osttürkischen Landschaften ist, daß sie so leer sind, über lange Strecken sieht man eine belassene, sich überlassene, wenig bebaute und umgebaute Landschaft. Die Flüsse mäandern in breiten Kiesflächen durch ihre immer neuen Betten, viele kleine Feuchtgebiete, mit nie trocknenden, immer matschigen Wiesen, viele Seen sind ohne Boote, ohne Steege, ohne Badende, ohne Strandcafes, ohne Häuser. Die Berge sind die Berge. Man kann in ihnen in die Dörfer fahren und dann losgehen und trifft nur ein paar Hirten, sonst niemanden, keine markierten Wege, keine Zäune, kaum Nutzung, außer ein bißchen mühsamer Landwirtschaft und ab und zu einem Steinbruch. Man sieht auch kaum Plantagen, kaum Monokulturen mit Bäumen einer Sorte bis zum Horizont, viele Mischgärten für den eigenen Bedarf. Das Auge geht über die Linien und Flächen und Konturen der Gegend, ohne viel unterbrochen zu werden, es gibt wenig menschengemachte und die Landschaft bestimmende Linien, nur die Straßen und Strommasten gibt es in dieser Hinsicht. Keine Lagerhalle hier und Fabrik da. Die Flecken in der Landschaft sind die Dörfer, sie sind ohne ein einziges mehr als zweigeschossiges Haus. All das findet sich unter einem sehr belebten Himmel, nicht dem wolkenlosen Azurblau der Meeresregion. Hier ist mehr Wetter, schattenwerfende Wolken und Regen und Sonne gemischt. In dieser ärmlichen Gegend hatte niemand die Möglichkeit, nicht das Geld, nicht die Maschienen, nicht die Infrastruktur, sich die Landschaft zu formen, sich die Erde Untertan zu machen. Das wird nicht ewig so bleiben, wenn die EU kommt, wenn die Grenze nach Armenien aufgeht, wird es hier anders werden, man spürt schon jetzt viel Veränderung in wenigen Jahren. Die Menschen hier sind sehr gastfreundlich, sehr großzügig, sehr menschlich, neugierig auch.
Vor Bingöl sehen wir eine ganze Gruppe von Störchen in der Wiese stehen und Storchennester auf den Masten mit meist zwei Jungen. Als wir über die Berge kommen liegt Bingöl glänzend in einer sonnenbeschienen Ebene. Wir nehmen einen Dolmus von Bingöl nach Solhan. Hier wollen wir eine liebe Verwandte von Mine besuchen. Nihal ist die 25jährige Tochter der Schwester von Ramazan (Mines Exmann). Ihr Vater kommt hier aus einem entlegenen kurdischen Dorf und sie hat hier ihre erste Stelle als Lehrerin angenommen. Die Schule hat 700 Kinder und ist ein Internat. Hierhin kommen die Kinder, die keine Eltern haben und Kinder, die in ihren entlegenen Dörfern nicht beschult werden können und Kinder, deren Eltern wirtschaftlich so schlecht dastehen, daß die Kinder anders keine schulische Grundausbildung erhalten würden. Die alte Schule wurde vor wenigen Jahren im Rahmen eines EU-Projektes renoviert und sieht ganz gut aus. Zur Zeit sehen wir ganz überwiegend Kühe und Ziegen auf dem Gelände, da zur Zeit Schulferien sind und die normale Durchmischung dieses Bildes mit Kindern fehlt. Nihal wohnt auf dem Gelände in einer sehr schönen großen Lehrerwohnung. In wenigen Wochen wird sie heiraten. Mit dem Bruder ihres zukünftigen Mannes fährt sie uns in Solhan entgegen und bringt uns in ihre Wohnung. Nach unserer Ankündigung hat sie uns mit “dört gözle beklemek”, mit vier Augen erwartet, die in alle Richtungen nach uns Ausschau halten. Der Empfang ist sehr sehr herzlich. Wir trinken erstmal Tee und essen Brot, Käse und Oliven und Tomaten und Gurken und Brombeermarmelade. Die Unterhaltung ist angeregt, man hat sich seit 14 Jahren nicht gesehen. Servet, der Schwager, läd uns zum Abendessen zu seiner Familie ein. Als er uns später dazu mit dem Auto abholt, gehen wir erstmal zu einem Hennaabend in der Nachbarschaft. Wie sich herausstellt ist es der Bruder von Servets Frau, der heiratet. Auf einem erleuchteten Platz vor einer Schule ist Musik aufgebaut und es wird Halay getanzt. Die Kurden tanzen wirklich wunderschön, auch die Männer tanzen ganz viel und ausgelassen. Überall sind Kinder. Wir werden ganz offen und selbstverständlich aufgenommen, ein Gast ist eine Ehre (auch die mit Bergschuhen). Ein lebhafter junger Mann versucht ein paar Worte Englisch mit mir zu sprechen. Unser Gastgeber (Servet) kommt über den Platz, sagt ein kanppes Wort, der junge Mann erschrickt, verstummt und dreht sich sofort weg von mir. Hier quatscht man Frauen nicht einfach an, die eigenen nicht und die fremden auch nicht. Lange beobachten wir das muntere Treiben, gehen dann zum Haus von Servet und seiner Familie. Wir kriegen lecker Essen (Reis, weiße Bohnen in Soße, Auberginengemüse, Tandir-Brot, Ayran). Nach und nach kommen immer mehr Leute, die essen, die Kinder zu Bett bringen, Tee trinken oder nur sitzen. Alles geht ruhig und trotz der vielen Leute gut organisiert ab. Da sind die vier kinder unseres Gastgebers, eine Schwester und ein Bruder der Frau des Hauses mit ihren nicht kleinen Familien und einige, die ich auch im Laufe des Abends nicht zuordnen konnte. Es ist ein Kommen und Gehen. Sehr interessiert unterhält man sich mit uns, Mine übersetzt in alle Richtungen und man fühlt sich als Gast ausgezeichnet vor lauter würdiger Aufmerksamkeit, die einem zu Teil wird. Wir sollen dann auch dort schlafen (Pyjama ist schon rausgelegt) und morgen mit nach Diyarbakir zur Hochzeit fahren. Bitte!
Sonntag, 21. Juni 2009
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