Sonntag, 14. Juni 2009

9.6.09 Diyadin

Die Nacht war unangenehm kalt und wir mußten zudem dreimal auf Toilette wegen des abendlichen Tees, was ja immer bedeutet, sich fast komplett anzukleiden und über den Hof rüber zu den Toiletten zu gehen. Wir sind etwas zerknittert beim Aufstehen und genießen doppelt das Frühstück in der Morgensonne. Danach starten wir zu einem Spaziergang. Der Himmel ist wieder schwer von Wolken und zu zwei Seiten donnert und blitzt es schon kurz nach dem Aufbruch. Zu unserer Freude sehen wir viele Frühlingsblumen und sind begeistert, eine Wiese mit zahllosen lila blühenden wilden Orchideen zu sehen, die wir dank unserer Tour mit den Orchideenkennern in Ermenek jetzt nicht mehr übersehen.
Treffen später eine junge Dorffrau mit ihrem Kleinkind auf dem Rücken. Dem Kind fehlt ein Strumpf, das Haar ist stumpf und wirr und aus der Nase läuft der Schnupfen. Mit dem Händen krallt es sich in den Pullover der Mutter und dreht scheu den Kopf weg als man es streicheln will. Die Frau bringt Mittagessen zu dem Hirten (meist kleine oder pubertierende Jungen), der für das Dorf die Tiere hütet. Mine beginnt wie immer ein Gespräch und wir stehen ein paar Minuten und unterhalten uns. Die Frau spricht ein bißchen Türkisch und Mine ein bißchen Kurdisch und es reicht für eine Verständigung. Sie sagt im Laufe des Gespräches: “Ihr seid so schöne Menschen und wir sind so kaputt.” Mine sagt ihr: “Dein Dorf ist schön und Du bist auch schön.” Sie verweist auf die vielen Kinder, die sie geboren hat (die Frauen haben hier oft 6-9 Kinder), freut sich aber dennoch über das Lob. Wir verabschieden uns und sie sagt “Geht mal in mein Dorf, ich komme gleich nach und koche Euch Tee.” Noch lange unterhalten wir uns über ihre Worte. Wir gehen über Wiesen und Felder und kommen gerade noch trockenen Fußes in das nächste Dorf ehe der Regen beginnt..
Dort stehen ein paar Lehrer und Schüler an einem Dolmusch. Als sie die Fremden sehen, kommen sie uns entgegen. Heute wurde eine Ausstellung in der Schule eröffnet und wir sollen sie angucken. Mehrer Räume sind üppig dekoriert mit den Ergebnissen der handwerklichen Arbeit der letzten Monate: Genähtes, Gesticktes, Gestricktes, Gehäckeltes. Wir werden herumgeführt und fotografiert für die Dorfseite im Internet und bewundern alles. Danach bekommen wir Almsuppe mit Brot und dabei unterhalten wir uns mit einem Lehrer und einigen Frauen des Dorfes und die Kinder drängen sich in der Tür und gucken und hören zu. Alle sind festlich gekleidet. Der Lehrer erzählt, daß die Arbeit schön und schwierig ist. Die Dörfler sind oft arm und können es sich nicht leisten, die Kinder alle und immer in die Schule zu schicken. Bald, wenn das Wetter besser wird, müssen die Tiere wieder gehütet werden und viele der Jujngen werden der Schule fern bleiben, um diese Arbeit zu tun. Es gibt zwar eine Schulpflicht, aber die Lehrer melden die Kinder nicht, weil sie wissen, daß die Familien nicht anders können. In anderen Dörfern werden oftmals besonders die Mädchen nicht zur Schule geschickt, sie müssen zu Hause helfen und man fördert wenn eher die Jungen. Wie fragen, ob die Lehrer Kurse anbieten für die Erwachsenen, denen es nicht möglich war, im Kindesalter Lesen und Schreiben zu lernen. Die Frauen sind sofort begeistert und wollen mitmachen und wissen andere, die bestimmt auch wollen. Der Lehrer sagt, sie wollten das bald wieder anbieten. Die Frauen werfen gleich ein, daß so etwas ja noch nie angeboten wurde und sind Feuer und Flamme für die Sache. Die meisten Lehrer meiden das Dorfleben und kommen oftmals nur für den Unterricht angefahren, wohnen sonst in der Stadt. Dabei scheint uns ihre Gegenwart für die Dörfer recht wichtig. Hier im Osten der Türkei herrscht Lehrermangel, die Lehrer bekommen doppeltes Gehalt, wenn sie dorthin gehen und junge Lehrer werden für die erste Stelle (Pflichtjahre als Beamte) oftmals dorthin versetzt. Manchmal nimmt man auch einfach Absolventen der Lisesi (Gymnasien), die nicht als Lehrer ausgebildet sind, weil der Mangel so groß ist. Das Gebiet ist halt strukturschwach und vernachlässigt, die Dörfer haben oft Stromausfälle, nicht immer fließend und genug Wasser, kein Internet, keine Ablenkung und einen Großteil des Jahres hat man Schlamm an den Schuhen und im Winter schneit man nicht selten ein und heizt mühsam mit getrockneten Kuhfladen und Kohle (Holz gibt es fast nicht). Manche machen das zu ihrer Sache und bleiben hochgeschätzt und verehrt bei diesen anhänglichen und liebenswürdigen Menschen und bewegen, was zu bewegen ist, manche wollen das aber eben nicht für sich. Die Dörfer sind konservativ und religiös und die Welt und das Denken sind eng. Alle möglichen Warnungen bekommen wir z.B. von den Menschen, wenn wir in die Dörfer und durch sie hindurch gehen und wenn wir jenseits der Dorfgrenzen noch weiter gehen, scheinbar reale Ängste (“da sind Hunde”), scheinbar irreale Befürchtungen, die dazu führen, daß manche Bewohner selber fast ein Leben lang das eigene Dorf nicht verlassen.
In einem Dorf wurde ein Krankenhaus gebaut, es gibt aber keinen Arzt/Ärztin, die bereit ist dort zu leben.
Die Dörfer haben meist eine kleine Schule, vielleicht einen kleinen Laden, sonst nur einzelne Häuser mit vielen Kindern, deren Hege und Pflege für niemanden im Vordergrund steht, streunenden Hunden, umherlaufenden Hühnern, trocknenden Fladen, gefegten Höfen, Rinnsalen, um die herum die Erde weich ist, kleinen Wasserstellen, an denen man Wasser holt, wenn man Glück hat in kräftigem und nicht allzu zögerlichem Strahl.

Wir verabschieden uns freundlich. Man bedankt sich herzlich, daß wir gekommen sind und sie geehrt haben durch unseren Besuch. Der Boden ist aufgeweicht nach dem kräftigen Regen und wir gehen über die Felder und Wiesen und Wege mit immer dicker werdenen Blocken aus Lehm unter den Sohlen, wie auf Stelzen, wie Astronauten auf dem Mond. Als wir unser Heim erreichen, beginnt es wieder zu regnen. Wir trinken Tee, baden nachdem wir zu frieren begannen wieder in der heißen Quelle im Separee während es weiter kräftig regnet. Danach in Decken eingehüllt Abendessen im Zimmer bis auch das zu kalt wird. Gehen früh zu Bett, eingemummelt.

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