Mine hatte eine Idee. Und die setzten wir an diesem Tag in die Tat um. Wir wollen ein altes Lehrerehepaar, das im Sommer in den Bergen im Dorf Aslanköy lebt, besuchen. Dieses Ehepaar hat in Mines und dem Leben ihrer Familie eine längere Geschichte. Der Mann war Mines Grundschullehrer in der 2. bis 4. Grundschulklasse in Erdemli. Mines Mutter und ihre fünf Kinder lebten damals in Erdemli. Der Vater fehlte in dieser Konstellation chronisch, war meist auf der Flucht vor seiner Familie und der sich daraus ergebenden Verantwortung. Mines Mutter brachte die Familie mühsam durch, indem sie Wäsche für wohlhabendere Leute mit der Hand gewaschen und für sie geputzt hat. So machte sie auch die Bekanntschaft des Lehrerehepaares, die der jungen, fleißigen, sorgenreichen Frau, Mines Mutter, Gehör schenkten und sie mochten. In dieser Situation bieten die beiden Lehrer, die auch zwei Kinder haben, an, eines der fünf Kinder von Mines Mutter anzunehmen. Sie kommen überein, daß die in der Geschwisterfolge Dritte (G.) abgegeben wird. Das Mädchen war damals vier Jahre und lebte fortan in der anderen Familie mit deren beiden Kindern. Die Leute sind ganz lieb mit dem angenommenen Kind, kümmern sich sehr um sein Fortkommen, fördern es nach Kräften und nehmen es an Kindesstatt an. Neun Jahre lebt das Kind bei ihnen. Inzwischen ist Mines Mutter nach Deutschland gegangen, hat vorher die anderen vier Kinder ins Dorf Darbogaz zu ihrer Mutter gebracht. Nach zwei Jahre kommt sie erstmals wieder in die Türkei, um ihre vier Kinder nach Deutschland nachzuholen. Nun waren die Familie in Deutschland versammelt, aber nicht komplett, denn G. fehlte. Die Kinder fragten hartnäckig nach ihrer Schwester. Daraufhin weist Mines Mutter aus Deutschland ihren in Mersin lebenden Bruder an, das Kind aus der Familie des Lehrerehepaares zu holen. Der steht eines Tages vor der Tür der Lehrer und holt das Kind ab. Die beiden Lehrer sind traurig und völlig konsterniert und überwinden die Fassungslosigkeit über dieses Vorgehen und den Verlust zeitlebens nicht. Zu allem Überfluß dauert es danach unerwarteterweise ein Jahr bis G. tatsäch ausreisen kann, da der Vater für das minderjährige Kind die Unterschrift für die Ausreisepapiere verweigert. Statt das Kind zu den Lehrern zurückzubringen, trudelt es in diesem Jahr durch verschiedene Familien. Dann bringt Mines Vater das Kind endlich nach Deutschland. In all den 40 Jahren seitdem hat Mines Mutter das Ehepaar nie wieder gesehen, nie wieder aufgesucht. G. hat das Ehepaar seitdem zweimal besucht.
Wir nehmen am morgen den Dolmus nach Mersin. Lange warten wir an einer Kreuzung, an der der Dolmus nach Aslanköy vorbeikommen soll. Wir wissen nur nicht wann. Schließlich gehen wir doch zum Busbahnhof, was uns sicherer erscheint. Dort ist der Dolmus nach Aslanköy bereits voll. Alle Dorfleute haben Plätze reserviert, was wir nicht haben, da wir das Prozedere nicht kannten. Wir sollen wieder aussteigen, damit die Platz haben, die reserviert haben. Mine ereifert sich und sagt, wir wären immerhin Gäste und ob sie so mit ihren Gästen umgehen würden, die nicht wissen können, wie der Hase läuft. Wir stehen schon wieder draußen vor dem Bus als sich eine Frau einschaltet. Irgendwie rücken dann alle noch weiter zusammen und es werden so viele Hocker wie möglich neben die Sitze gestellt und pickepackevoll geht es los.
Angekündigt sind wir bei dem Paar nicht, wissen nicht mal, ob sie noch leben. Die Leute im Dolmus erkundigen sich, was wir im Dorf wollen. Mine erzählt, daß sie ihren Lehrer Selahattin und seine Frau Döndü besuchen wolle. Ein Mann erweist sich als ihr Neffe und so erfahren wir, daß die beiden noch leben und am Dorfeingang wohnen. Durch die schönen Berge fahren wir in dem engen Dolmus bei guter Stimmung und Unterhaltung in das Dorf. Der Neffe zeigt uns, wo wir aussteigen müssen und führt uns zu einem hübschen alten Haus in einem Obstgarten. Die Frau ist auf der Veranda. Mine stellt sich als G.s Schwester vor und erzählt, daß ihr Mann ihr Lehrer war. Beide haben keine persönliche Erinnerung an Emine, aber die Einführung reicht und wir sind sehr willkommen. Wir trinken Kaffee auf der Veranda und es wird viel erzählt über die sich überschneidenden Familiengeschichten, über G. damals und heute und das Trauma als ihnen das Kind entrissen wurde. Die beiden sind inzwischen 80 und 83 Jahre alt. Es sind gebildete und differenzierte und liebe Leute. Döndü ist sehr selbstbewußt, ein bißchen dominant. Der Mann geht los und holt Adanakebap und wir machen Salat dazu und essen dann gemütlich auf der Veranda. Danach kriegen wir im Nachbarhaus eine süße Wohnung gezeigt, wo wir bleiben und uns ein bißchen zurückziehen können und über Nacht bleiben können. Das Haus haben sie für die Besuche ihrer Kinder und Enkelkinder gebaut. Wir halten dort einen langen Mittagsschlaf in der angenehmen Kühle der Berge. Trinken danach gemeinsam Tee mit den alten Leuten und erzählen wieder viel. Es folgt ein Spaziergang im Dorf mit Selahattin. Er trägt seine Schirmmütze und ist elegant und Ton in Ton mit dünner grauer Hose, Polohemd und Strickjacke gekleidet. Wir werden an jeder Ecke den Bekannten und Verwandten vorgestellt und er ist stolz auf seinen Besuch. Bei einer jungen Verwandten klopft er und läd er uns zum Kaffee ein. Zum Abendbrot zu Hause gibt es: Zuccinigemüse gedünstet, Omlett mit Tomaten und Käse und Ei, Jogurt und Salat. Wir sitzen in der gemütlichen Küche mit Sofa und Kamin und Küchenbüffee. Danach lassen wir den Abend auf der Veranda ausklingen und lassen den alten Leuten nicht zu spät ihre Ruhe. Drüben in unserer kleinen Wohnung trinken wir noch Tee und dann kommt schon die kalte Nacht.
Samstag, 22. August 2009
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