Wir kommen nicht so richtig nach mit dem Erzählen.Aber das Dorf ist natürlich kein touristisches Ziel, sondern in erster Linie Mines türkische Heimat und der Ort, an dem ihre Mutter lebt. Für uns beide ist es ein Ort voller Geschichten und Gesichter, die wir kennen und immer wieder sehen und von denen Mines Mutter in den Zwischenzeiten erzählt. Von vielem hier zu berichten ist schwierig ohne die Zustimmung der betreffenden Menschen und es ist ein bißchen grenzüberschreitend.. Für mich ist es jedesmal eine sehr interessante Welt, die mich staunen läßt, in der ich ein entspannter und willkommender Betrachter bin, wobei meine Möglichkeiten einzugreifen gering sind.
Da gibt es einmal die vielen Geschichten von denen, die ihr Glück im Ausland gesucht haben, die Jahrzehnte in Belgien, Holland, Frankreich und Deutschland verbracht haben, deren Kinder dort zur Welt kamen, aufwuchsen und nicht selten dort verblieben, während die Eltern -alt geworden- zurückkehrten, um hier ihre Heimat und ihr Erspartes zu genießen. Sie bauen Häuser für Familien, die längst über Kontinente verstreut sind. Sie sind konfrontiert mit Neidern und deren Begehrlichkeiten, aber auch einem sozialen dörflichen Gefüge, daß sie mit aus den Angeln gehoben haben. Sie waren lange unterwegs und kommen nicht mehr richtig an und wandern zwischen den Welten und nicht immer können sie die Vorzüge der einen in die jeweils andere Welt retten. Sie kamen auch nicht selten zurück mit eine anderen Vorstellung von Fleiß und Tagwerk. Wir denken da an den Freund Sami des Schwagers von Emine (Freund des Ehemannes der Schwester Ayse), der sich während eines Spieles von Galatasaray Istanbul gegen Schalke in Gelsenkirchen nach Deutschland absetzte, indem er einfach den Rückflug nicht mehr antrat und Asyl beantragte. Nach seiner Arbeitserfahrung in Deutschland (damals durften Asylbewerber arbeiten) kehret er in die Türkei zurück mit den Worten, “wenn ich in der Türkei so viel arbeiten würde wie in Deutschland, würde ich auch in der Türkei ein reicher Mann werden” (er ist auch dann auch reich geworden in der Türkei, aber nicht durch Arbeit sondern durch krumme Geschäfte, er hat die Gelder seines Chefs veruntreut, d.h. zu seinen Gunsten verwaltet).
Dann gibt es diese wunderbaren alten kleinen Frauen, die in einer unübersichtlichen Anzahl von Stoff- und Strickhüllen stecken und neben den Öfen ihrer Wohnzimmer trocknen und das Leben von hier verfolgen, die irgendwie Redlichkeit ausstrahlen und nie schlecht riechen, wenn man sie drückt, um dabei festzustellen, daß nicht mehr viel dran ist an ihnen. Man denkt nicht selten, sie zögen keinen Hering mehr vom Teller und dann sieht man sie am nächsten Tag vor dem Haus in der Sonne auf einem Kissen sitzen und Holz schlagen für den Ofen. Ihre Stimmen sind brüchig und scheppernd und ihr Lachen auch, das Kauen ist schwierig. Sie sind freudig über jeden Besuch und großzügig mit ihren Gesten. Viele dieser alten Mütterchen sind erstaunlich beweglich und fit, meistern ihr Leben, sammeln Kräuter und Pilze, kochen Marmelade, sammeln Nüsse auf und haben immer einen Vorrat von diesem und jenem und geben eine Handvoll davon ab.
Viele Kinder sehen wir, die sich selbständig und findig in ihren nicht immer durchgängig behütenden Verhältnissen bewegen. Sie sind meist sehr gut erzogen, hilfsbereit und freundlich und ehrlich und bescheiden.
Es geht für viele im Dorf darum, das Leben immer neu zu meistern, besonders in finanzieller Hinsicht. Die hierfür beschrittenen und beschreitbaren Wege sind für uns oft unübersichtlich. Unser Nachbar Ismael, mit dessen Familie Mines Mutter befreundet ist, arbeitet fleißig hier und da in den Gärten, beklagt aber, oft nicht wie versprochen gleich sondern irgendwann bezahlt zu werden und dann ist für ihn und seine Frau und die drei Kinder halt nix da für das tägliche Leben und man muß selbst für Brot und Zigaretten (das wichtigste halt) anschreiben lassen. Viele Sicherheiten, Rücklagen und Absicherungen fehlen und scheinbar oft auch Alternativen, die man wählen könnte, damit alles besser läuft. Man muß besorgen und beschaffen und auch annehmen, was andere einem geben und die daraus entstehenden Abhängigkeiten dafür in Kauf nehmen. Viele junge Leute schaffen es nicht, sich um ihr Wohl, ihre Ausbildung, ihre jungen Partner und Kinder zu kümmern und unterstützen mit dem, was sie haben, ihre Primärfamilien in einem Maße, das ihnen nicht erlaubt, ein eigenes Leben zu planen und aufzubauen. Die Geschwister und Eltern und Nichten und Neffen, die da von einem der Arbeit hat, versorgt werden, nehmen das oft hin oder fordern es auch oder vielleicht weiß auch jeder nur, daß es anders nicht geht.
Es existierten unglaublich starke Abhängigkeiten unter den Menschen hier, besonders innerhalb der Familie aber auch außerhalb. Man überblickt nicht immer, woraus sie sich speisen. Da wohnt über den ganzen Winter eine Tante von Ismael bei der Familie. Sie, geht einfach nicht mehr heim und genießt das Versorgtsein, obwohl hier eine ganze Familie abends in dem einzigen beheizten Zimmer schläft und die Kinder dort Schularbeiten machen und vielleicht auch noch die Wäsche trocknet. Von ihrer guten Rente aus Deutschland gibt sie nix ab und die Familie ist arm, lebt mehr schlecht als recht von dem was Ismael in den Gärten der Dörfler als Tagelöhner verdient, wenn er nicht gerade im Alkohol versinkt. Sie genießt das Umsorgtwerden und keiner kann ihr über Monate sagen “Geh jetzt mal Heim oder gib doch was dazu zum Leben hier”. Es ist eben dieTante...
Und eine hart arbeitende Frau, ganz emanzipiert wirkend, unsere Hüri (sie ist hier die Knocheneinrichterin im Dorf zu der alle gehen mit ihren Verstauchungen und Prellungen und Knochenbrüchen, sie hat Ziegen und ihre Gärten), wird mit über 40 Jahren einem Mann durch ihre alte Mutter versprochen, die hinter dem Ofen sitzt. Hüri spricht drei Monate nicht mit ihrer Mutter vor Entrüstung und Traurigkeit, aber hätte sich ihrer Mutter gefügt, wenn sich die Hochzeit nicht aus anderen Gründen zerschlagen hätte.
Bei vielen hier sieht man eine ganz schwache -nennen wir es- Ichentwicklung. Viel Fügen sieht man, wenig gestaltender Energie für das Eigene, viel Genügsamkeit und Melancholie. Kämpfen heißt oft durchhalten. Große hinnehmende Kräfte. Ein Mißstand ist ein Mißstand und nicht immer scheint es den Versuch wert, ihn zu beheben.
Die Familie und die Verwandschaft sind eine der unumstößlichen Grundfesten hier. Mines Mutter hatte hier ein Haus gebaut. Zwei helle Zimmer hatten große Fenster mit Blick zu den Bergen. Während eines der Arbeitsaufenthalte von Mines Mutter in Deutschland haben die unmittelbaren Nachbarn (enge Verwandte) von Mines Mutter eine Etage auf ihr Haus aufgestockt. Leider war dies nur möglich, indem man die beiden Fenster vom Haus von Mines Mutter einfach zugemauert hat. Zudem wurde natürlich die Außenmauer vom Haus von Mines Mutter gleich die Innenwand des Nachbarhauses. Das ganze wurde weder angekündigt, noch besprochen, sondern einfach vorgenommen. Aus der schönen hellen Wohnung, die man sich nach vielen Jahren Arbeit in Deutschland geleistet hat, war ein dunkles Etwas geworden. Mines Mutter hat nix dagegen unternommen, hat es akzeptiert, denn sie wollte keinen Ärger mit den Verwandten, die hier die Nachbarn sind. Und das bei so einer resoluten und kämpferischen Frau wie Mines Mutter. Mir wäre das Herz stehen geblieben, wenn ich meine Wohnung aufgeschlossen hätte und es nicht hell geworden wäre vor meinen Augen.
Wenn wir durch das Dorf gehen und jemanden treffen, will der in der Regel wissen, wer wir sind. Ich bin der Tourist, das ist einfach. Mine aber ist das Enkelkind des “blauäuigigen Dervis” (Großvater mütterlicherseits kam aus dem Schwarzmehrgebiet und hatte blaue Augen) und “das Enkelkind von dem blonden Mädchen” = Sarikiz (das ist Fadime, Mines Großmutter väterlicherseits, die damals hier als einzige blond war im Dorf). Wenn das nicht gleich verstanden wird sagt Mine noch, ich bin die Tochter von Ali, dem Sohn des blonden Mädchens. Spätestens dann weiß jeder Bescheid. Seitdem Mines Mutter zurück ist aus Deutschland ist sie natürlich “die Tochter von Alamanci Seynep” (der Deutschländer Seynep). Gestern nahm uns ein junger Mann mit nach Ulukisla, er stellte sich vor als Enkel des “Kürt Huseyin” (des Kurden Huseyin) und Sohn des “Kürt Ali” (des Kurden Ali) und damit wußte auch Mine gleich Bescheid. Es gibt also einige wenige Stammväter und -mütter, auf die das ganze Dorf zurückzuführen ist. Sieben Sippen haben sich vor über hundert Jahren hier aus verschiedenen Regionen der Türkei getroffen und das Dorf gegründet. Eine Sippe kam z.B. aus dem Schwarzmeergebiet, eine aus dem Osten, eine aus der Region Adana, sie alle waren aus irgendwelchen Gründen geflüchtet oder sind vertrieben worden.
Viel großzügige Liebenswürdigkeit erlebe ich hier auch, viele offene Türen, viel Wärme und Entgegenkommen, die das Leben erleichtern und verschönern. In diesem Dorf war immer möglich alles zu organisieren, was wir wollten. Immer war ich hier irgendwie sorglos, weil sich die Dinge finden werden und man nicht allein ist mit allem.
Den Absprung zu finden aus diesem Dahintreiben und Mittendrinsein im Dorf ist schwer. Das sehen wir bei vielen Menschen, die einfach in der Form, in der sie sind, bleiben, nicht aufbrechen mögen, nicht ihre eigenen Ziele formulieren und mit Nachdruck verfolgen.
Wir treffen viele Menschen, die -wie Mine sagt- “ihren Weg verloren haben”. Das kann vieles heißen. Ich weiß auch nicht, ob es davon hier mehr gibt als anderswo. Wahrscheinlich nicht, aber man kriegt vielleicht unmittelbarer davon mit, jedenfalls beschäftigt es uns oft und immer wieder. An einem Abend landete z.B. Gülsüm hier auf dem Sofa von Mines Mutter, die sie schon einmal für ein paar Monate aufgenommen hatte. Gülsüm ist eine junge Frau, aufgemacht wie eine Natascha mit blonde Haaren, lila lackierten Fingernägeln, leider einer Zahnlücke im Frontbereich. Sie hat eine traurige Lebensgeschichte hinter sich. Ihre Liebenswürdigkeit ist klebrig, ihre Freundlichkeit devot, ihre Anhänglichkeit erschlagend. Sie bietet sich mit ihrer Art an für alles und man weiß schon vorher, daß sie dafür nix kriegen wird, was ihr ausreicht für irgendwas. Sie sagt, sie sei geboren worden als Nixe, ihre Beine waren am Unterschenkel zusammengewachsen und wurden als Kind operativ getrennt. Und wirklich sie hat etwas von einer Nixe, lockend und verträumt und wie aus einer anderen Welt. Auf dem großen Fest am 23.4., dem Kindertag, kam sie ketztes Jahr in Minirock und aufreizender Kleidung und wurde wegen der unangemessenen Aufmachung geschlagen und vertrieben von den Dörflern. Ihre Geschichte ist also tragisch ohne Ende und sie hat ihren Weg wahrscheinlich wirklich verloren, sie wird weiter der Spielball verschiedener Mächte sein und hat es selber nicht mehr in der Hand, so gestört wie sie ist in ihrem Verhalten. Sie hofft auf eine Unterkunft bei Mines Mutter, will im Haushalt helfen und sich um Mines Mutter kümmern. Ob sie das noch schafft, man weiß es nicht?
Es gibt zum einen hier weniger Institutionen, die Menschen auffangen, weniger Anonymität in dieser Dorfstruktur als in einer Stadt und halt viel direktere Abhängigkeiten von anderen Menschen.
Alle hier sind auch weniger abgelenkt durch anderes. Ich habe im Dorf noch nie eine Zeitung oder einen zeitunglesenden Menschen gesehen, auch Bücher (außer Schulbüchern und dem Koran) sieht man in den allermeisten Haushalten nicht, keine CD- und DVD-Sammlungen und auch keine Computer mit Internetzugang und Flatrate . Die einzelnen hier aufgezählten Posten gibt es natürlich alle im Dorf, aber bei weitem nicht in dieser Dichte, wie bei uns.
Dazu kommt auch, daß sich in Mines Mutter einiges vereint, das dazu führt, daß sich vieles in ihrer Nähe zuträgt. Sie ist auf eine burschikose Weise beherzt, sie greift oft kompromislos in das Geschehen ein, sie trägt das Herz auf der Zunge, sie ist gutmütig und in ihrer Deutlichkeit Dinge zu benennen völlig ungeschminkt.
Viele Gründe also, daß Sichtbares hier im Dorf deutlich zu Tage tritt.
Freitag, 24. April 2009
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